Richard Hawley - Further

Richard Hawley - Further

Das Jahr 2019 könnte für Songwriter Richard Hawley zu einem wichtigen Wendepunkt seiner bisherigen Karriere werden. Möglicherweise sogar zu dem wichtigsten überhaupt: So veröffentlicht der Brite mit „Further“ nicht nur sein neuntes Studioalbum, zusätzlich läuft in seiner Heimatstadt Sheffield auch noch ein Musical an, das auf einer Sammlung seiner Songs basiert. Und schließlich kann er noch ganz nebenbei sein 20. Jubiläum als Solokünstler feiern – eine Tatsache, die Hawley ganz typisch mit seinem trockenen Realitätssinn kommentiert. „Ich nehme an, zwanzig Jahre sind in diesem Geschäft eine verdammt lange Zeit. Doch um ehrlich zu sein, betrachte ich mich heute immer noch als einen Suchenden. Ich suche nach gewissen Dingen; sowohl innerhalb meiner Musik, als auch in meinem Leben abseits der Bühne. Ich kann nicht genau beschreiben, wonach ich suche oder wohin mich meine Reise führt. Aber wenn ich fündig geworden bin, schicke ich eine SMS“, so Hawley nicht ganz unironisch.

Seitdem er das wilde Bandleben mit Formationen wie The Longpigs oder seine Gitarristentätigkeit bei Pulp vor mittlerweile zwei Dekaden an den Nagel gehängt hat, verfolgt der 52-jährige Songwriter eine der wohl ungewöhnlichsten und vielschichtigsten Karrieren innerhalb der modernen Musik. Neben einer Reihe von Soloalben, mit denen Hawley die seltene Gratwanderung zwischen künstlerischer Anerkennung und kommerziellem Erfolg vollbrachte, blickt der Brite außerdem auf eine eindrucksvolle Liste namhafter Kollaborationen zurück: Angefangen bei den Arctic Monkeys, den Manic Street Preachers, Elbow und Paul Weller über seine ganz persönlichen Musikheroes wie den amerikanischen Gitarristen Duane Eddy (dessen 2011er Album „Road Trip“ Hawley produzierte), Shirley Bassey (für die er 2009 die glühende Ballade „After The Rain“ schrieb) oder Nancy Sinatra bis zu Lisa Marie Presley und den britischen Folk-Ikonen Martin Carthy und Norma Waterson (die er auf ihrer „Bright Phoebus Revisited“-Tour im Jahr 2013 unterstützte). Schließlich wäre da noch seine Zusammenarbeit mit unverrückbaren Pop-Celebrities wie Robbie Williams, den All Saints oder Texas, die Hawley in den vergangenen Jahren auf die unterschiedlichsten Arten musikalisch verstärkte. Und auch zu einem gewissen Filmruhm brachte er es: Sein Song „Tonight The Streets Are Ours“ war sowohl in „The Simpsons“, als auch in dem semi-dokumentarischen Popart-Streifen „Exit Through The Gift Shop: A Banksy Film“ vertreten.

Richard Hawley verfügt über die einzigartige Fähigkeit, in seinen Songs verschiedene Musikstile, Epochen und sogar Orte zu verbinden. Etwas, das auf sein tiefes, ja intuitives Verständnis der Musik selbst zurückgeht. Schon während seiner Kindheit schaute er sich von seinem Vater – ebenfalls Musiker – die Fähigkeiten im Umgang mit Country, Blues und Rock `n Roll ab. Während er bis heute Acts wie Echo & The Bunnymen, The Stooges, David Bowie und The Jam als wichtige Einflüsse seiner musikalischen Sozialisation nennt, begab sich Hawley zusätzlich zurück an die Wurzeln allen Geräuschs, um seine ganz eigene Vision dessen zu entwickeln, was Musik in seinen Augen repräsentieren sollte. Befragt nach seinen ganz persönlichen Blues-Helden, finden sich Namen wie Sonny Boy Williamson und Muddy Waters („well, schon mein Vater hat mit ihnen gemeinsam gespielt“, so Hawley grinsend) ebenso, wie Arthur `Big Boy` Crudup („der Maestro!“) und Freddie King. In seinem Herzen jedoch bleibt Hawley bis heute dem Rock `N Roll in seiner reinsten Form verhaftet – wie er auch mit seiner markanten Haartolle demonstriert. „Ich werde sehr oft gefragt, warum ich immer noch meine Tolle trage. Meine Antwort: Weil ich`s kann. Punkt.“, so seine bestechend simple Erklärung.

Ein gewisser Sinn für die romantische Seite der Musik war schon immer tief in Hawleys Familie verankert. Bezeichnenderweise machte er am Tag einer Plattenvertragsunterzeichnung jedem Mitarbeiter seines Labels eine höchstpersönlich eingepackte Vinylsingle zum Geschenk – Jim Reeves 1963 veröffentlichter Hit „Welcome To My World“. „Genau die Art von Platte, die ich selbst machen will“, erklärte er dem Labelchef seinerzeit sein ungewöhnliches Präsent. Um seinen Worten auch Taten folgen zu lassen, veröffentlichte er nur wenig später sein viertes Studioalbum mit dem Titel „Cole´s Corner“. Mit „Cole´s Corner“ feierte Richard Hawley im September 2005 seinen großen Durchbruch als Solokünstler und wurde zusätzlich für den renommierten Mercury Music Prize nominiert. Während sich Teile der Medien über seine sogenannten „Retro-Einflüsse“ ausließen, konnte der Musiker ein völlig neues Publikum für sich gewinnen, das von seinem gefühlvollen Songwriting begeistert war. Während einer Zeit, in der Indiebands zu Dutzenden Top 1-Alben in die Charts schossen und sich der Crazy Frog an der Spitze der britischen Single-Charts festsetzte, war Hawley damit beschäftigt, introspektive Songs über das wirkliche Leben, über echten Verlust und die Liebe zu schreiben – verpackt in herzerwärmende Musiktexturen und die ausgeklügelte, fließende Produktion von Studiopionier Chet Atkins.

Mit den Nachfolgealben von „Cole´s Corner“ entwickelte Hawley kontinuierlich seine Fähigkeiten. Sein 2009 veröffentlichtes Werk „Truelove´s Gutter“ stellt sein bis heute wohl komplexestes Album dar; das im Jahr 2012 folgende „Standing At The Sky´s Edge“ brachte ihm seine zweite Nominierung für den Mercury Music Prize ein und stieg bis auf Platz 3 der britischen Charts – Hawleys bis heute höchstem Hitparaden-Entry. Vier Jahre nach seinem letzten Longplayer, dem viel beachteten „Hollow Meadows“, meldet sich Richard Hawley nun mit seiner brandneuen Scheibe „Further“ zurück. Und schon der Titel seines ersten Albums für BMG zeigt deutlich die Richtung an, in die er sich 2019 bewegt: Nach vorne, ohne dabei jedoch seine Vergangenheit zu verleugnen. „Ich wollte mich selbst herausfordern und versuchen, alles im Uptempo-Bereich zu komponieren, um die Songs auf gute drei Minuten zu begrenzen“, berichtet Hawley offen. „Ich fragte mich, ob ich immer noch in der Lage wäre, meine Botschaft so direkt wie eine Pistolenkugel rauszufeuern. Eine ziemlich unbequeme Frage, muss ich zugeben.“

Als Resultat präsentiert sich Hawley auf „Further“ so direkt und unverschnörkelt wie nie zuvor. Der Songwriting-Prozess gestaltete sich dabei so intensiv wie immer. „Ich schreibe jeden Tag. Gibt es sowas wie einen tatsächlichen Kreativprozess? Nicht wirklich. Während ich mit dem Hund Gassi gehe, kommen mir Dinge in den Kopf. Das ist alles. Ich bin nur dann inspiriert, wenn ich an nichts Besonderes denke. Nur wenn ich banale Dinge tue und den Kopf frei habe, kann ich kreativ sein. Die größte Herausforderung war, die Songs auszuwählen. Ich hätte in alle möglichen Richtungen gehen können und musste mir darüber klar werden, wie ich all diese Stücke unter einen Hut bekommen könnte, so dass sie ein rundes Bild ergeben.“ Schon mit dem donnernden, auf seiner Rickenbacker-Gitarre performten Opener „Off My Mind“ legt Hawley das stilistische Fundament von „Further“. Einen Track, den er mit den Worten „Spielen, als gäbe es kein Morgen“ beschreibt.

Emotionale Tiefe und persönliche Eindrücke, die sich wie ein roter Faden durch die elf Tracks des Albums ziehen. So wie auch durch „My Little Treasure“, an dem Hawley mehr als 12 Jahre gefeilt hat. Hawley verhandelt hier das hoch emotionale Zusammentreffen mit zwei engen Freunden seines 2007 verstorbenen Vaters sowie seine zerrissene Gefühlswelt zu dieser Zeit. „Es geht um echte Liebe und um Loyalität. Es ist sehr leicht, diese kleinen, fast molekular winzigen Augenblicke in unserem Leben auszublenden. Doch das sind genau die Momente, in denen wir unser Innerstes offenbaren; das finde ich sehr wichtig. Es gibt auf dieser Platte ein paar wirklich schwere Songs. Der Titeltrack lässt sich fast mit einem kleinen Gedicht vergleichen. Einerseits zeigt es meine Wut auf diese Welt, andererseits geht es darum, ehrlich zu sich selbst zu sein. Ich glaube, ich sollte betonen, dass ich diesmal ein hoffnungsvolles, positives Album abliefern wollte.“

Schon immer wurde Hawleys Songwriting von seinen eigenen Erfahrungen inspiriert; ebenso wie von literarischen Einflüssen und seiner enormen Beobachtungsgabe. Wie allen großen Songschreibern gelingt es ihm, seine persönlichen Befindlichkeiten in eine allgemeine Sprache zu transformieren, die seine Hörer frei für sich selbst interpretieren können. Eine Ausdrucksweise, die mit einem Erlebnis in seiner frühen Kindheit zusammenhängt. „Statt sie im Laden zu kaufen, bastelten meine Oma und meine Großtanten sich immer selbst ihre Papiertischdecken. Als kleiner Junge habe ich sie mir vors Gesicht gehalten und durchgeschaut. Ich habe mir vorgestellt, was wohl dahinter ist. Genau darum geht es auch beim Songwriting: Man muss immer Platz lassen für die eigenen Phantasien und darf die Texte nicht mit vorgegebenen Inhalten überfrachten. Schon Bob Dylan oder Bob Lind haben in ihren Lyrics immer weiße Flecken gelassen, die die Hörer mit ihren eigenen Gedanken füllen konnten.“ Obwohl Hawley in seiner Musik jede Menge kreative Freiflächen zum eigenen Ausmalen lässt, fußen die Ideen auf „Further“ doch ganz klar im Hier und Jetzt. „Wie sollte es auch anders sein?“ so Hawley. „Wir werden täglich mit so viel hasserfüllter Scheisse bombardiert – ich wollte etwas wirklich Liebevolles erschaffen. Ein paar Stücke spiegeln diese Intention wider und beschäftigen sich damit, was gerade ab geht. `Not Lonely` ist wohl ein gutes Beispiel dafür. Der Songtitel hört sich auf den ersten Blick irgendwie bescheuert an“, fährt Hawley fort. „Der Text handelt von einer Lebensphase, von der ich hoffe, dass unsere Kinder sie irgendwann erreichen. Von der Zeit, wenn sie ihre eigenen vier Wände haben, wo sie sich ein Ei braten und die Musik hören können, die sie wollen. Kurz gesagt, geht es um den Luxus, alleine zu sein und das zu tun können, worauf man gerade Bock hat. Das Stück erinnert mich an meine eigene Phase, in der ich mit 17 einfach von Zuhause weg musste, um meinen eigenen Platz im Leben zu finden.“

In den letzten Jahren hat sich Richard Hawley intensiv mit seinem Platz im Leben beschäftigt. Nicht nur im übertragenen Sinne, sondern auch im Bezug zu seiner geliebten Heimatstadt. Hawley erzählt oft und gerne über ihr vielfältiges Erbe – ganz egal, ob in musikalischer Hinsicht, was die industrielle Entwicklung betrifft, berühmte Persönlichkeiten oder vieles andere. „Manchmal bin sich selbst genervt davon, dass die Leute ständig über mein Verhältnis zu Sheffield sprechen. Doch ich glaube, ich bin wohl selbst daran Schuld. Das Thema hat sich so langsam wohl echt erschöpft, obwohl ich nochmal betonen will, wie verdammt gerne ich hier lebe!“ Eine Liebe, die scheinbar auf Gegenseitigkeit beruht: Im März läuft mit „Standing At The Sky`s Edge“ ein Musical in Sheffields Crucible Theatre an, das nicht zufällig den Namen seines siebten Studioalbums trägt. Zu hören sind ausgewählte Hawley-Songs (inklusive drei unveröffentlichter Stücke), die seinen künstlerischen Werdegang von der reinen Musikperformance in die Welt der großen Bühne und der Leinwand zeigen. Eine Reise, die mit seinen Soundtrack-Arbeiten zu Streifen wie „Funny Cow“ aus dem Jahr 2018 oder dem dieses Jahr folgenden „Denmark“ begann.

Geschrieben von Chris Bush und inszeniert von Robert Hastie erzählt das Musical von drei Generationen dreier unterschiedlicher Familien im Sheffielder Sozialbrennpunkt Park Hill. Angefangen beim optimistischen Aufbau-Geist der Nachkriegsjahre, über die Wandlung zur No-Go-Area in den 80ern bis hin zu den Spannungen während momentaner Gentrifizierungsversuche dient Park Hill als Fallbeispiel für ein weitaus größeres, globales Problem. „Für mich ist Park Hill ein Symbol für einen missglückten Regenbogen“, so Hawley. „Es wird aber langsam besser; noch ist die Hoffnung nicht verloren.“ Eine Art von Optimismus, die sich auch auf „Further“ reflektiert, das zum größten Teil in Sheffield eingespielt wurde. Gemeinsam mit seinen Co-Produzenten Colin Elliot und Shez Sheridan blickt Richard Hawley auf seinem neuen Album über den Tellerrand hinaus. Tatsächlich stellt „Further“ das Werk eines Mannes dar, der sich nichts mehr beweisen muss, sondern stattdessen noch jede Menge zu erzählen hat. „Mit 15 habe ich mir Quentin Crisp angesehen“, erinnert sich Hawley an eine folgenreiche Nacht in den frühen 80ern, in der er Zeuge eines Auftritts des gefeierten Geschichtenerzählers und Autors in einem Sheffielder Theater wurde. „Er sagte etwas, das zu meiner Leitmaxime werden sollte. Ein ganz simpler Satz: Wherever you go, there you are. Das ist im Grunde alles, was man wissen muss… ganz egal, um was es geht.“



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